KARATE – DO, Gedanken eines Meisters

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelltext: Albrecht Pflüger

Bunkai – die Kata zum Leben erwecken

Bereits im Jahre 1964 erhielten wir (ich war damals Präsident des „Deutschen Karate-Bundes“) von der „Japan Karate Association“ (JKA) drei große Rollen 16 mm Tonfilm (Englisch) auf denen das gesamte Programm der JKA (Gymnastik, Grundtechniken, Partnerübungen und vor allem alle Katas) dargestellt war. Vorführende waren u.a. Nakayama, Nishiyama, Kase, Kanazawa, Shirai, Enoeda, Ueki, Asai etc. Zum Abschluss jeder Kata wurde diese nochmal in Anwendung gezeigt gegen vier tatsächliche Angreifer als Kata-Kumite bzw. Bunkai. Die Filme waren dann später als Normal 8 mm Schmalfilmkopien in stark gekürzter Form ohne Ton und für teures Geld erhältlich. – Diese Vorführungen überzeugten mich schon damals, Kata nicht nur in Abläufen technischer Bewegungen zu üben und zu unterrichten, sondern immer auch mit möglichen Anwendungen dazu. Nur auf diese Weise kann man dann die Kata auch „kämpfen“, wenn man sich der Bedeutung der Einzelaktionen bewusst ist, weil man sie tatsächlich mit einem Partner geübt hat!

Jahrelang wurde dann aber in der Folgezeit Kata tatsächlich fast ausschließlich als Abläufe von Techniken und Bewegungen gelehrt und gelernt. Ich erinnere mich an einen Lehrgang im damaligen Karate-Verband Baden-Württemberg, der Anfang der 80-er Jahre in der Universität Karlsruhe stattfand. Zu Beginn des Lehrgangs betonte die Lehrgangsleiterin (eine damalige Kata-Europameisterin) zwar ausdrücklich: „Kata ist auch Kampf“, im Unterricht selbst gab sie dann aber keinen einzigen, nicht mal theoretischen Hinweis auf eine Anwendung an einem Partner. Im Gegenteil: Hinweise auf die Ausführung einzelner Techniken wurden z. B. so begründet: „Das sieht so besser aus!“ oder etwa bei einer extra großen Ausholbewegung bei der
Bassai-Dai: „…. dass auch die Zuschauer in den hinteren Reihen etwas davon haben!“

Als dann etwa 10 Jahre später der Begriff „Bunkai“ immer bekannter wurde, wollten sich immer mehr auch auf diesem Gebiet Kenntnisse erwerben. Die jahrzehntelange Vernachlässigung dieses wichtigen Gebietes führte dann aber auch aufgrund dieser „Marktlücke“ zum Auftauchen von z. T. selbst ernannten Meistern, die sich nun erboten, die „geheimen“ und „verschlüsselten“ Techniken der alten Meister auf ihren Lehrgängen auch dem „normalen“ Karateka zugänglich zu machen. Das gipfelte dann darin, dass manche dieser „Erleuchteten“ für sich in Anspruch nahmen (und noch nehmen); nur sie (oder höchstens noch ihre Schüler) seien wirklich in der
Lage, aufgrund ihrer Forschungen (auf ausgedehnte Reisen nach Asien etc.), die von den alten Meistern angeblich sorgfältig „verschlüsselten“ Anwendungen aufzeigen und unterrichten zu können. Dieser Anspruch auf die alleinige „Deutungshoheit“ ist nicht nur äußerst fragwürdig, sondern zumindest auch sehr unbescheiden!

Erst kürzlich las ich in unserem DKV-Magazin die Äußerungen eines solchen Meisters: „Jede Kata enthält ein in sich geschlossenes komplettes System der Selbstverteidigung.“ Man muss also jetzt nur noch jemand finden, der uns das alles „entschlüsseln“ und uns so „geheimen Techniken“ zugänglich machen kann.

In einem anderen Bericht im DKV-Magazin über einen „Bunkai-Jutsu“-Lehrgang wurde u.a. dann noch angedeutet, welche Selbstverteidigungs-Techniken z.B. auch für den Bodenkampf in der oder jenen Kata „drin“steckten!

Abgesehen davon, dass die wirkliche Bedeutung von KATA nicht darin zu suchen ist, uns praxistaugliche Deutungen für die Selbstverteidigung zu liefern, möchte ich nun grundsätzlich diese „Bunkai-Geschichte“ mit den „geheimen, verschlüsselten Techniken der alten Meister“ entzaubern und stelle hier ganz klar und bewusst provozierend die Behauptung auf:

In den Katas steckt gar nichts drin was man entschlüsseln und so aus der Kata heraus holen könnte!

Im Gegenteil: Jede Interpretation („Entschlüsselung“) setzt voraus, dass der betreffende Lehrer grundsätzliche Kenntnisse hat von Hebeln, Würfen, Nervendruckpunkten (Kyusho), etc., die er dann von außen an entsprechende passende Bewegungsabläufe der Kata adaptiert.
Ein Beweis dafür ist auch, dass verschiedene gute Meister für die gleiche Bewegungssequenz einer Kata ganz unterschiedliche Bunkaiformen zeigen können, ja sich geradezu darin überbieten – was ich, um das gleich vorweg zu bemerken, für gut und erstrebenswert halte!

Damit ich besser verstanden werde, möchte ich hier ein Bild benutzen:

Jede Kata ist wie ein Gerüst, ein Skelett, das uns nur die Form vorgibt! Damit das Skelett wieder zum Leben erweckt wird, muss ich von außen her Fleisch an die Knochen bringen, ein Netz von Blutadern und auch Blut, das wieder durch die Adern fließen soll.

Das alles bringe ich aber in die Kata hinein (von außen). Es steckt nicht im Skelett verborgen drin! Deshalb sind ja auch verschiedene Interpretationen möglich und erwünscht! Nur in dieser individuellen ernsthaften Auseinandersetzung mit den in der Kata vorgegebenen Bewegungen lerne ich aktiv dazu! – Das Warten darauf, dass uns irgendwer die „Geheimtechnik“ eines alten Meisters für diesen oder jenen Teil einer Kata zeigen könnte, hält uns in Passivität und bringt uns so nicht wirklich weiter.

Ganz abgesehen aber davon, dass durch die von mir kritisierten Bestrebungen eine ideelle Überfrachtung der Kata mit behaupteten okkulten Techniken bewirkt wird und auf diese Weise Erwartungen geweckt werden, die die Kata gar nicht erfüllen kann, liegt die eigentliche Bedeutung von Kata aber in einem ganz anderen Bereich!

Kata, das Üben von genau festgelegten Übungen und Formen, stellt ein Phänomen dar, das wir im ganzen ostasiatischen Kulturkreis antreffen:

In der Teezeremonie, dem Tee-WEG (Cha-Do), ist jede Bewegung des Teezubereitens, die ganze Reihenfolge, die Utensilien, Kleidung etc. genau festgelegt. Die viel tausendfachen Wiederholungen zeitigen eine Vorführung, die Ruhe und Sicherheit ausstrahlt und erzeugt und so jeden Zuschauer in ihren Bann zieht.

Auch das chinesische Tai-Chi hat seine Wurzeln in der Kampfkunst (manche Tai-Chi-Stile unterrichten auch zusätzlich noch Partnerübungen). In mehr oder weniger langen Sequenzen (Katas) bewegen sich die Ausübenden auf niedrigem Energieniveau langsam in stetigem Bewegungsfluss mit großem gesundheitlichen Gewinn für Körper und Geist.

Iai-Do, die Kunst des „Schwertziehens“, wird alleine mit dem blanken (scharfen) Schwert ausgeführt. Es gibt dazu überlieferte Standardformen (Kata). Aus dem Kniesitz, aus völliger Ruhe zieht der Meister im Aufstehen blitzschnell sein Schwert, führt einen (oder in schwierigen Formen mehrere) Streiche mit dem Schwert aus, verharrt danach in Zanshin (wache Aufmerksamkeit) einige Sekunden lang, steckt dann ruhig sein Schwert weg und setzt sich genauso ruhig wieder ab bis zur nächsten Folge.

Im Jahr 2010 konnte ich anlässlich eines Jubiläumslehrgangs in Lüneburg die Vorführung eines Iai-Do Meisters genießen. Diese fand in einer Trainingspause statt, für die in der großen Dreifachhalle die Zwischenvorhänge hochgezogen wurden und alle Teilnehmer, darunter auch viele Kinder, setzten sich an der Längsseite der Halle auf den Boden. Als erfahrener Hauptschullehrer befürchtete ich, dass die Aufmerksamkeit bei dieser Art von Vorführung, (bei der ja nichts Konkretes geschieht, kein Gegner da ist) rasch erlahmen und Unruhe sich breit machen würde. Es waren immerhin über 100 Teilnehmer!

Der im Sei-Za sitzende Meister, 6.DAN, begann seine Vorführung und fast augenblicklich wurde es in der großen Halle mäuschenstill! Diese Aufmerksamkeit hielt über die ganze Darbietung an; ein Zeichen dafür, dass jeder Zuschauer (die in der Mehrheit gar nicht wussten was sie da erwartete) in den Bann der Ruhe, der Sicherheit der Bewegungen und der Ausstrahlung dieser Schwertvorführung gezogen wurde.

Nun zurück zur Karate-KATA:

Genauso wie bei den in anderen Zweigen fernöstlicher Künste praktizierten Katas, liegt der eigentliche Zweck und damit auch ihr Wert und ihre Daseinsberechtigung nicht in direkten praktischen Anwendungen, sondern in der durch die vielen hundertfachen Wiederholungen unter laufender Arbeit an Kleinigkeiten (Verbesserungen) erreichten Sicherheit, Stärke, Ruhe und Gelassenheit im körperlichen und geistigen Bereich. Durch die geforderten Bewegungen (langsam oder schnell, leicht oder stark), dem Rhythmus der Kata, der von den „Angreifern“ bestimmt wird, die dadurch beeinflusste Atmung verschmelzen Körper und Geist, Tun und Wollen zu einer Einheit, die den Zustand unserer Gesamtpersönlichkeit durch diese Art des Ãœbens laufend verbessert. Der Ãœbende erreicht so schließlich einen Zustand, in dem er durch äußere Einflüsse nicht mehr zu stören ist, eine in sich gefestigte, unerschütterliche Ruhe und Sicherheit der Gesamtpersönlichkeit.

Darin liegt die Bedeutung und der Wert von KATA und ihr tatsächliches Ziel!

gez. Albrecht Pflüger

_____________________________________________________________________________________________

Beharrliches, ernstes, intensives Ãœben

Jeder Mensch hat eine offenbar angeborene und eigentlich auch verständliche Neigung:
Er möchte sich gerne auf den einmal erreichten Lorbeeren ausruhen, möchte den Weg
des geringsten Widerstandes gehen (was ja auch ein Naturgesetz ist).

Im Karate sagen wir unseren Schülern, wenn sie nach der ersten Prüfung voll Stolz ihren
Gelbgurt tragen: „Jetzt fängt es erst richtig an!“ Den gleichen Ausspruch bekommt auch
einer zu hören, wenn er einige Jahre später gerade mit großer Anstrengung seinen Schwarzgurt geschafft hat: Jetzt erst eigentlich, nachdem er die Basistechniken „gemeistert“ hat, ist sein Geist frei, richtig Karate zu machen, zu verstehen, zu erleben, ohne sich dauernd auf die richtige Ausführung der Techniken konzentrieren zu müssen. Das ist ja auch die eigentliche Begründung für das Gürtelfarbensystem: Dieses sich „von Stufe zu Stufe“ hinaufarbeiten, dieses Nie – Sich – Ausruhen, diese Einsicht in die Tatsache, dass es immer weitergeht, weitergehen muss, denn Stillstand bedeutet Rückschritt, Langeweile, abgesehen davon, dass man nie auslernen kann! Als Karatelehrer beobachtet man sehr oft, dass vor Prüfungen der Trainingsbesuch reger wird.

Viele wollen den nächsten Gürtel – sehr gerne haben – aber mehr auch nicht:
Eine Prüfung ist für sie immer ein Abschluss. So ist man es ja auch aus dem täglichen Leben
gewöhnt: Prüfungen in der Schule, im Beruf etc.

Und so kann man dann fast folgerichtig beobachten, dass nach der Prüfung der Trainingsbesuch
wieder nachlässt. Im Karate ist es nun ganz wichtig, dass man erkennt, begreift und vor allem
danach handelt, dass eine Gürtelprüfung immer wieder ein Anfang ist, ein Ansporn im Hinblick
auf die nächste Stufe, die ja noch größere Anforderungen stellt, noch fleißiger, noch intensiver
zu üben. Das gilt auch und in besonderem Maße für den, der den Schwarzgurt erreicht hat.
Hier sogar als bewusst eingegangene Verpflichtung, dau­ernd intensiv weiter an sich – an der
Vorbesserung seiner Technik wie auch an der Reife seiner Persönlichkeit – zu arbeiten.
Hier beobachtet man nun leider sehr oft, dass viele Karatekas, die den Schwarzgurt einmal
mit großen Anstrengungen erreicht haben, zwar oft dabeibleiben, nach einigen Jahren aber
nicht mehr so gut sind. Sie wollen auf dem einmal Erreichten ausruhen, besuchen kaum mehr
Lehrgänge, fordern sich nicht mehr so (körperlich und geistig) und schon haben wir den Beweis, dass Stillstand in Wahrheit Rückschritt bedeutet.

In diesem Sinne möchte ich daran erinnern, dass Karate-Do der „Weg des Karate“ bedeutet und dass in dem japanischen Schriftzeichen für „Weg“ das Gehen, die Bewegung, eben das
Nicht – Still – Stehen beinhaltet ist. (Ein Weg ist nur ein Weg, wenn man darauf geht.)
Wer also richtig den Karate-Do gehen will, muss sich dauernd und zwar auf Jeder Stufe selbst überwinden und beharrlich und intensiv körperlich und geistig an seiner Persönlichkeit weiterarbeiten.

Sonst verdient das, was er praktiziert, nicht den Namen KARATE-DO !

Albrecht Pflüger
Karate-Lehrer seit 1963

11.Regel von Funakoshi:

„Karate ist wie heißes Wasser, das schnell abkühlt, wenn man es nicht ständig erwärmt.“

_________________________________________________________________________________________

Denkanstöße zur Verbesserung der Prüfungsleistungen
Hier: Überlegungen zum Prüfungsteil

Jiyu – lppon – Kumite

Diese Kumite – Form ist ab der Prüfung zum 3. Kyu und dann fortlaufend bis zum 5. Dan Bestandteil jeder Prüfung.

Man könnte deshalb annehmen, dass spätestens bei der Prüfung zum 1. Dan (nachdem der Prüfling schon bei 3 vorhergehenden Prüfungen diese Kumite Form zeigen musste) hier alles klar wäre und man als Prüfer vorwiegend gute bis ausgezeichnete Darbietungen genießen könnte. Da die Prüflinge sehr oft über gute Techniken sowie über Kampfgeist verfügen, wäre das eigentlich auch zu erwarten. Trotzdem beobachtet man auf Lehrgängen und dann vor allem bei Dan – Prüfungen, dass auf diesem Prüfungsgebiet noch einiges zu verbessern wäre. Es liegt nicht an den Prüflingen, es liegt m.E. auch an der Art und Weise, wie Jiyu – lppon – Kumite verstanden und unterrichtet wird. Man gewinnt den Eindruck, dass dieser Prüfungsteil mehr oder weniger nebenher läuft. Um auch hier Verbesserungen zu erreichen, ist es notwendig, einen grundsätzlichen Konsens darüber zu erreichen,

1. warum dies ein wichtiger Prüfungsteil ist und dann darüber
2. wie deshalb Jiyu – Ippon – Kumite praktiziert und geübt werden soll

Suchen wir zunächst in der maßgeblichen Literatur:

1. Nishiyama und Brown „Karate – The Art of empty Hand Fighting“ 1960

Angreifer und Verteidiger nehmen hier eine lockere Freikampfhaltung ein und bewegen sich. Der Angreifer muss eine Öffnung und die richtige Distanz zum Gegner finden, bevor er angreift. Der Verteidiger muss den Angreifer beobachten und bereit sein, sich zu verteidigen. Sobald der Angriff erfolgt, muss er abwehren oder ausweichen und dann kontern….Sowohl der Angreifer als auch der Verteidiger müssen versuchen, die richtige Distanz zu wahren: der eine zum Zweck des Angriffs und der andere zum Zweck der Verteidigung.“

2. Nakayama zitiert 1977 in der Buchserie „Best Karat~“ in Band 3 seinen Klassenkameraden und nach
Gründung der JKA auch Kollegen Minori Miyata, dessen klar umrissene Ausrichtung über Jiyu – lppon – Kumite und Jiyu – Kumite von ihm und auch von vielen über alles geschätzt wurde: „Beim Jiyu – lppon – Kumite stehen sich beide Partner auf beliebige Distanz in Kamae frei gegenüber. Der Angreifer sagt die beabsichtigte Angriffsstufe an und führt dann seinen Angriff aus. Der Abwehrende wehrt den Angriff mit einer von ihm beherrschten und frei gewählten Technik ab und lässt unmittelbar einen Konter folgen. – Jiyu – lppon – Kumite – ist eine Ãœbungsmethode um grundschulmäßige Angriffs- und Abwehrtechniken in die Praxis umzusetzen. Die vielen verschiedenen Bewegungen aus einer Kata können hier im einzelnen mit Partner geübt werden. Hierfür gibt es auch die Bezeichnung Jissen = tatsachliches Kampf – Kumite.“

3. Kanazawa betont 1987 in seinem Buch „Kumite – Kyohan“, dass nach den grundschulmäßigen Kumite – Formen des Gohon – Sanbon – und Kihon – lppon – Kumite erst ein sich frei bewegender Angreifer uns zwingt, das Bewusstsein von Raum (Distanz} verbunden mit der richtigen Zeitwahl (Timing) zu entwickeln. Der Angreifer greift an, wenn der richtige Abstand (Mai – ai) erreicht ist und der Zeitpunkt stimmt . Das ist die kürzeste aber auch die treffendste und aussagekräftigste der drei Beschreibungen, denn sie betont die Wichtigkeit der Distanzbeherrschung und der Zeitwahl (Timing). Halten wir also fest: Beim Jiyu – lppon – Kumite sollen diese zwei Qualitäten trainiert werden, die auch im freien Kampf von entscheidender Bedeutung und deshalb untrennbar miteinander verbunden sind:

1. Das Gefühl für den richtigen Abstand in Angriff und Verteidigung (Mai – ai)
2. Das Gefühl für den richtigen Zeitpunkt (Timing)

Eine Formulierung, die ich einmal in der englischsprachigen Literatur fand, trifft meiner Meinung nach diesen Sachverhalt besonders anschaulich:“To hit the right spot from the right distance in the right moment.“

Beginnen wir nun mit unseren ausführlichen Betrachtungen zunächst bei der Distanz (Abstand, Entfernung).
Hier ist es hilfreich, zwischen zwei Distanzen (Abstanden} zu unterscheiden:

1. Die sichere Distanz – Vorkampfphase, Angriffsaufbau

Beide bewegen sich in einem solchen Abstand voneinander, dass ein direkter Angriff ohne vorherige Distanzverkürzung noch nicht m5glich ist. Wenn der Angreifer nun, um in den richtigen Abstand für seinen Angriff zu gelangen, die Distanz verkürzt und der Verteidiger immer genauso weit zurückweicht, dann bewegen sich beide noch nach einer Stunde in sicherer Distanz umeinander herum, ohne dass der Angreifer die richtige Distanz für seinen Angriff findet ! Deshalb ist die Anmerkung im Prüfungsprogramm wichtig, wo es heißt: …“ der Verteidiger soll vor dem Angriff so wenig wie möglich zurückweichen, um dem Angreifer die Einnahme des gewünschten (besser: des wirksamen Abstandes) zu ermöglichen.“

Ein Verhalten allerdings, bei dem der Verteidiger ohne sich zu bewegen wie ein Kaninchen gegenüber der Schlange sich dem Angreifer quasi wie gelähmt ausliefert, wäre andererseits unnatürlich und äußerst riskant!
Zur Bewegung des Angreifers heißt es: „Sinnvolles Bewegen des Angreifers vor dem Angriff ist erwünscht, um sich eine Gelegenheit (besser. den richtigen – wirksamen – Abstand} zum Angreifer zu erarbeiten.“ – Und da haben wir nun den zweiten Begriff zur Distanz, den wir zum besseren Verständnis benötigen:

2. Die wirksame Distanz – der entscheidende Moment

Diese Distanz ist erreicht, wenn der Angreifer ohne weitere Distanzverkürzung direkt angreifen kann.
Die Aufgabe des Angreifers ist es also, sich möglichst rasch aus der für beide sicheren Distanz In die wirksame Distanz herauszuarbeiten und dann von dort aus, ohne noch den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. schnell und stark anzugreifen. Verharrt er nämlich nur einen Sekundenbruchteil zu lange In der wirksamen Distanz, so kann er seinerseits sofort direkt vom Verteidiger abgekontert werden! Und hier beobachtet man nun sehr häufig die Situation, dass der Angreifer, nachdem er sich in die wirksame Distanz herangearbeitet hat, anschließend hier noch sekundenlang verharrt, um dann plötzlich und ohne jede weitere Distanzverkürzung anzugreifen. Dieses Verharren des Angreifers in der wirksamen Distanz würde ihn in einem tatsächlichen Kampf aufs äußerste gefährden, denn der Begriff „wirksame Distanz“« gilt ja auch für den Verteidiger, der ihn aus dieser Distanz heraus ebenfalls direkt wirksam treffen kann. Das ist der häufigste Fehler, der bei Lehrgängen und Prüfungen zu beobachten Ist! Die Ursache dafür ist ein falsches Verständnis von Timing im freien Kampf. Um dieses Missverständnis zu klären möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel aus der Physik bemühen, das auch noch mal die Begriffe „sicherer Abstand“‚ und „wirksamer Abstand«“ verdeutlicht:

Nehmen wir einmal an, beide Kämpfer wären mit einer Spannung von etwa 10 000 Volt „geladen“. Die Entfernung, bei der ein Blitz überspringen kann, beträgt dann etwas mehr als 1 Meter. Solange also die vorderen Füße beider Kämpfer sich noch nicht bis auf diesen Abstand genähert haben, befinden sich beide in sicherer Distanz. Wenn sich der Angreifer bis zur wirksamen Distanz genähert hat, kann die Spannung überschlagen – und zwar von jeder Seite!! (Beim Annähern an die wirksame Distanz „knistert“ es schon gefährlich!). Das bedeutet, dass der Angreifer beim Erreichen der wirksamen Distanz sofort angreifen muss, ohne noch einen Sekundenbruchteil zu zögern. Er sollte sogar danach streben, das letzte Quäntchen Distanz bis zum Erreichen der wirksamen Distanz noch mit dem Angriff selbst zu überbrücken!

Dasselbe meint auch Miyamoto Musashi (jap. Schwertmeister 1548 – 1645, Autor von „Das Buch der fünf Ringe“). Sein Ausspruch: „lchi byô shi“ (In einem Atemzug. Im selben Moment) bedeutet: Wenn die richtige Distanz für einen Schlag gegeben ist, sollte man ohne irgendwelche weiteren Bewegungen in einem Atemzug angreifen. Taisen Deshimaru Roshi, ein lange Zeit in Frankreich lebender ZEN – Meister, formuliert ähnlich, wenn er in einem MONDO (=Lehrgespräch) sagt: „In den japanischen Kampfkünsten früherer Zeit brachte ein einziger korrekter Hieb den Tod. (Das ist das lppon – Prinzip in der traditionellen Praxis des Karate, das auch dem Jiyu – lppon – Kumite zugrunde liegt … Anmerkung des Verfassers). In allen Sportarten heute gibt es einen Moment des Abwartens; in den Kampfkünsten gibt es das nicht. Wenn man einen auch noch so kurzen Moment wartet, zieht der Gegner daraus Nutzen und man ist verloren.“

Gerade weil auch dem Jiyu – Ippon – Kumite dieses Prinzip des einen entscheidenden (Gegen-) Angriffs zugrunde liegt ist diese Kumite – Form eine ganz traditionelle Form des Kampfes und keine sportliche!

Für den Verteidiger hat deshalb diese Betrachtungsweise die Konsequenz, dass er den Angreifer, wenn dieser beim Erreichen der wirksamen Distanz zögert, entschlossen direkt kontern darf (muss!). Das ist hier dann auch keine De – Ai – Technik (direktes Kontern in den gegnerischen Angriff hinein), was mit Recht bei Prüfungen nicht erwünscht Ist, sondern der gegnerische Angriff ist noch gar nicht erfolgt. Dieses Kampfverhalten wird auch durch die traditionelle Philosophie der Kampfkünste begründet, bei der unter den verschiedenen Formen des SEN ( = Initiative) eine Initiative in der Verteidigung beschrieben wird (Ato – no – Sen), bei der du eine Verteidigungshandlung genau in dem Moment unternimmst, in dem du bemerkst, dass er angreifen will. Und dieser Moment ist gegeben, wenn er sich dir gegenüber in die wirksame Distanz begibt !

Auch in der Selbstverteidigung ist es Ãœbrigens rechtlich abgesichert, dass du gegen einen potentiellen Angreifer, der dir trotz Warnung zu sehr „auf die Pelle’« rückt (andere Formulierung für „wirksamen Abstand“), eine Verteidigungshandlung unternimmst.

Nach meiner Ãœberzeugung kämen wir auf diese Art und Weise in dem Prüfungsgebiet Jiyu – lppon – Kumite zu ernsthafteren Kampfszenen, weil die ursprüngliche Vorstellung, den Kampf mit einem Schlag zu entscheiden, wieder deutlicher spürbar würde!

Zusammenfassung :

Tori und Uke gehen sofort nach dem Startkommando in eine tiefe „traditionelle’~ Kampfstellung: Tori offensiv aus der Bereitschaftsstellung Hachiji – Dachi einen Schritt vor , Uke einen Schritt zurück. Tori arbeitet sich anschließend rasch an die wirksame Distanz heran und greift dann sofort stark an. Dabei nicht antäuschen, auch keine Distanztäuschung (Gleitsprünge vor oder zurück o.ä.}. Angriffe mit Oi – Tsuki grundschulmäßig arretieren! Der Angriff selbst muss so stark sein und mit der Absicht Kontakt zu machen vorgetragen werden, so dass der Angegriffene, wen er nicht reagiert, ernsthaft gefährdet wäre. (Die Ernsthaftigkeit und Effektivität jeder Partnerkampfübung geht vom Angreifer aus!) Nur so wird auch Uke gezwungen, schnell, sicher und effektiv zu reagieren!

Uke weicht aus und (oder) blockt und macht sofort anschließend den Gegenangriff mit KIAI auf eine empfindliche Körperstelle. Unmittelbar danach wieder auseinander in die sichere Distanz (Nachbereitung}. Dort kurzes Verharren mit ZANSHIN (Wachsamkeit) dann wieder Heranarbeiten für den nächsten Angriff. Blockiert wird grundschulmäßig aus sauberen Grundstellungen heraus. Der Prüfling soll hier das ganze Spektrum der Karatetechniken in den Gegenangriffen anwenden: Sowohl bei den Stellungen, als auch bei den Blocktechniken, sowie bei den Gegenangriffen (Tsuki, Uchi, Keri). Also nicht nur mit Gyaku – Tsuki kontern. Denke daran, dass Jiyu – lppon – Kumite keine sportliche Form ist, sondern eine traditionelle und auch besonders dafür entwickelt wurde, um die vielen Techniken der Katas an einem aus der Bewegung heraus angreifenden Gegner anzuwenden.

Albrecht Pflüger