Karate im Alter

Jukuren – Karate-Do für Erfahrene

Oder: Ist Breitensport ein gutes Wort für karate? 

Ein Interview mit Fritz Nöpel vom 10.04.2005

Fritz, in vielen Sportverbänden gibt es Breitensport für Senioren. Im Karate, insbesondere im Goju-Ryu, wird von Jukuren gesprochen. Was bedeutet dieses Wort?

Sensei Tomuharu Kisaki war von 1957 bis zu seinem Tod 1996 mein Lehrer. Ich habe ihn in Japan kennen gelernt und einige Jahre dort verbracht. Als ich ihn 1986 in Japan besuchte, gab er schon fast jeden Sonntag einen Lehrgang für ältere Meister. Die waren zwischen 50 und 75 Jahre alt, und Kisaki nannte sie „Jukuren“. Jukuren heißt eigentlich „Erfahrene“, also im Leben und in der Kampfkunst Erfahrene. Ich habe das übernommen, 1987 habe ich in Deutschland mit solchen Lehrgängen angefangen, und mittlerweile gibt es hier sogar ganze Vereine, die ausschließlich Jukuren-Gruppen haben. Lehrgänge habe ich auch in Bayern und Baden-Württemberg gegeben, in Thüringen, Sachsen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und natürlich ständig in Nordrhein-Westfalen.

Welche Inhalte sind in diesen Jukuren-Lehrgängen besonders wichtig?

Ganz oben steht der Gesundheitsaspekt. Danach richtet sich die Gymnastik, d.h. mehr Dehnungen und sanftere Übungen in jeder Form. Natürlich wird auf den Körper Rücksicht genommen, dass man sich nicht überdehnt, nicht überstreckt, dass man sich nicht durch schnelle Techniken verletzt, sich keine Zerrungen holt. Im Alter dauert es viel länger, sich von solchen Verletzungen zu erholen. Das Training wird etwas lockerer durchgeführt als bei jungen Leuten, die Atmung wird besonders hervorgehoben. Das bezieht sich auf alle Techniken, bei der Kata und in der Selbstverteidigung. So wird dann die Kata als Atemkata und nicht mehr als kämpferische, spritzige Kata ausgeführt. Man verliert zwar an Gelenkigkeit und an Spritzigkeit, aber dafür wird man genauer, ist abgeklärter durch die Erfahrung. Man findet zu Techniken, die man in jungem Alter nicht beachtet hat, mehr Greiftechniken. Weil die Gelenkigkeit nicht mehr so ausgeprägt ist wie früher, muss man die Distanz besser im Griff haben und muss mehr Vielfalt in den Ständen trainieren. Das sind die Aufgaben im Jukuren. Auch Grundschule wird trainiert, aber nicht so auf die Kraft fokussiert. Man kann ruhig Kihon trainieren, aber nicht so intensiv wie in jungen Jahren. Das ist eigentlich der Weg. Die Vielfalt des Karate-Do kommt endlich zum Tragen.

Findest du „Breitensport“ einen guten Begriff fürs Karate?

Nein, überhaupt nicht. Eigentlich müsste es doch Karate-Do heißen, der WEG der leeren Hand. Es ist eine Lebensphilosophie. Während man in vielen anderen Sportarten zwischen Leistungs- und Breitensport unterscheiden kann, indem der Breitensport ohne Druck auch als Freizeitbeschäftigung gilt, strebt man im Karate-Do, auch im Alter noch den Dan an. Wir müssen also immer eine Leistung bringen, wenn auch keine direkt athletisch-sportliche. Wir müssen eine Leistung bringen, die Vielfalt beinhaltet, wir müssen uns mit der Vielfalt im Karate-Do auseinandersetzen. Das ist unsere Aufgabe im so genannten Breitensport. Es ist ein unglückliches Wort. Wir müssen mehr zum Karate-Do hingehen oder vielleicht ein anderes Wort erfinden, so wie mit dem Jukuren. Es geht nicht darum zu sagen, die [Breitensportler] machen wirkliches Karate und die Sportler nicht, deren Leistung ist auch wichtig. Man sollte beide Seiten sehen. „Breitensport“ passt eigentlich nicht zum Karate-Do, Karate-Do ist ernsthaft, an eine Philosophie gebunden. Das Verständnis kommt ja erst durch das Mensch-Werden im Alter. Im typischen „Breitensport“ sehe ich das so nicht. Das geht meiner Meinung nach nur über die Kampfkunst.Du hast gesagt, dass auch Ältere den Dan anstreben können. Wenn junge Athleten sich mit hoher athletischer Leistung auf den Dan vorbereitet haben und neben ihnen ein Mitte 50-jähriger steht, der die gleiche Danprüfung ablegt, wie unterschiedlich sind diese Prüfungen zu bewerten?Man würde einen Fehler begehen, wenn man dem Älteren aufgrund seines Alters den Dan gibt, er muss auch eine gewisse Qualität bringen. Er muss die Grundschule können, aber er muss nicht unbedingt dieselbe Spritzigkeit und Gelenkigkeit besitzen. Er kann das Programm auch in einer etwas ruhigeren Form ausführen. In Japan erteilt ein Dan gleichzeitig einen Charakterbeweis. Das Dojo-Kun, die Etikette haben eine ganz große Bedeutung. Wie verhalte ich mich im Dojo, und anderen gegenüber, meinem Lehrer, den andere Schülern und Gleichgesinnten? Auch das muss gezeigt werden. Natürlich muss der Prüfling die Techniken und Fertigkeiten beherrschen, die für einen Dan verlangt werden. Aber er muss dem jüngeren, spritzigen Prüfling nicht körperlich ebenbürtig sein, zu keiner Zeit. In Deutschland haben wir das gut im Griff, es muss deswegen keinen Streit geben. Dass man nicht alle befriedigen kann ist auch klar. Es geht aber nicht nur um den guten Charakter, es muss auch Leistung gezeigt werden. Im Endeffekt ist die Frage ausschlaggebend: „Fühle ich mich bereit, kann ich mich verteidigen?“, und wenn dieses positiv beantwortet werden kann, dann muss man ein gewisses Können an den Tag gelegt werden.

In Nordrhein-Westfalen hast du die Jukuren-Lehrgänge seit den späten 80er Jahren angeboten, wie siehst du die Zukunft, wie wird es sich im Jukuren entwickeln?

Der Bedarf an Angeboten für Ältere wird deutlich steigen, weil die Menschen älter werden. Als wir mit dem Karate anfingen, haben kaum Ältere begonnen. Neben denen, die im Karate älter wurden, gibt es viele Widereinsteiger, und Menschen, die etwas älter sind und einfach mal was Neues ausprobieren wollen. Diejenigen, die im Karate älter wurden, verfügen über sehr großes Wissen. Wenn zu denen die Neueinsteiger kommen und sehen, dass da schon viele „Oldies“ sind, dann finden sie gleich Kontakt. Die Vorteile einer älteren Gruppe im Verein sind eine höhere Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit, sie sind treue Mitglieder, die dem Verein und den Jugendgruppen zur Hilfe sein können. Ich bin mir sicher, so in 10-20 Jahren wird es eine große Masse von „Oldies“ geben, die wird herausgefordert werden müssen. Die wird man nicht Grundschule rauf und runter schicken können, die muss man fördern, indem man die ganze Vielfalt des Karate-Do anbietet. Wir haben derzeit viele Trainer, aber noch haben wir wenige Lehrer. Das löst sich mit der Zeit auch. Wir haben sehr viele Trainer, die schon sehr, sehr lange dabei sind, die werden automatisch auch Lehrer.

Was wäre deiner Meinung nach ein gutes Ziel, wenn man die Erfahrenen in unserem Verband fördern möchte?

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Karate-Do charakter- und gesundheitsfördernd ist. Das sind die zwei wichtigsten Aspekte überhaupt. Man kann sich nicht nur Techniken aneignen, sondern tatsächlich auch durch die Vielfalt im Karate die Gesundheit fördern. Das geschieht durch die Atmungsmöglichkeiten, durch die Vielfalt der Techniken selbst. Man wird selbstbewusster, selbst noch im Alter. Durch die Arbeit im Karate-Do, das Arbeiten an sich selbst, lernen die Menschen, sich selbst mehr zu zutrauen, lernen, dass sie stark sind. Das gemeinsame Trainieren hält auch die Menschen zusammen, man kann dadurch die sozialen Kontakte pflegen. Wir brauchen im Karate beides, das Karate-Do und die Sportler im Karate! Die Sportler führen das Karate ja auch weiter, fördern den Karate-Nachwuchs und beflügeln oft die Traditionellen wieder. Wir können uns gut ergänzen – die Älteren, Erfahrenen und die Erfolgreichen, Jüngeren. Wir Ältere führen die Techniken anders aus als die Jüngeren, die sie über die Kraft, technisch versiert ausführen. Dafür steht dabei eine andere Atmung, eine andere, innere Kraft im Zentrum, den Älteren fehlt die äußere Kraft, die die jüngeren ja noch haben. Wir brauchen uns gegenseitig, deswegen dürfen wir da keine Probleme entstehen lassen. Letztlich ist es doch der Mensch der den wesentlichen Beitrag bringt.

Ich danke dir für das Gespräch.

Interviewführerin: Judith Niemann

Quelltext: DKV

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